Der Tongariro Nationalpark bildet das Herz der seismologischen Wundertüte, die Neuseeland einst geformt hat. Die Wanderung über den teils aktiven Vulkan gilt als eine der schönsten der Welt. Hier liest du, wie ich im Rahmen meiner Erkundung Neuseelands mit dem Fahrrad diesen Berg erklomm! Dieser Text ist ein Auszug aus meinem nächsten Roman. Eine autobiografische Erzählung über meine Zeit als Radwanderer auf den Straßen Neuseelands. Von magischen Orten, inspirierenden Menschen und der Entdeckung der Langsamkeit. Und von der Suche nach dem Glück. Das Buch gibt’s überall im Handel!
Ein langsamer Start
„Guten Tag“, sage ich, lächle höflich und trete noch einen Schritt weiter nach links in die Büsche. Die entgegenkommenden Wanderer sehen verwundert auf, nicken verunsichert über die Wahl meiner Sprache und setzen ihren Weg in unverminderter Geschwindigkeit fort. Ich blicke ihnen für einen Augenblick nach.
Dass sie Deutsche sind, verrät nicht nur ihr rheinländischer Dialekt. Sonnenhüte von Jack Wolfskin, vor der Brust geschlossene Tagesrucksäcke und weiße Tennissocken in Wandersandalen sprechen eine eindeutige Sprache. Und sie laufen rechts. Ohne es zu merken, haben sie mich aus dem Tritt gebracht, weil ich den Weg verlassen musste, weil sie nicht auf den Gedanken kamen, dass sie auf der falschen Seite laufen.
Kopfschüttelnd mache ich mich weiter an den Aufstieg. Ich bin spät dran, das ist mir schon klar. Ich verbrachte die Nacht auf einer Wiese in Wurfdistanz zum Lake Taupo, etwa dreißig Kilometer entfernt, und bin heute früh nur schwer in die Gänge gekommen. Der Herbst ist nun endgültig da, und die vergangene Nacht war die erste, in der die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fielen. Es ist schwierig, Heringe aus dem vereisten Boden zu ziehen, wenn man seine Finger nicht spürt. Die eisigen Tautropfen stachen wie kleine Nadeln in die Hände, als ich versuchte, das Zelt zusammen zu rollen. Heute früh musste ich es langsam angehen lassen.
Der Busch
Dementsprechend zügig bin ich jetzt unterwegs. Die Sonne steht inzwischen hoch und es ist warm genug für ein T-Shirt. Ich habe die Baumgrenze inzwischen passiert, habe bereits vier- oder fünfhundert Höhenmeter überwunden. Unter mir liegt das, war die Neuseeländer lapidar Busch nennen und jeder normale Mensch einen Märchenwald: Durch knorrige Baumwipfel bricht sich das Licht seien Weg auf den Grund. Klare Gebirgsbäche plätschern sanft zu Tal. Moose verwischen die Grenze zwischen Wurzel- und Baumreich. Farnbäume wirken wie Pflanzen, die man sich als Kind ausgedacht hatte, die aber für die Realität zu fantasievoll waren. Etwas abseits des Weges hatte ich einen kleinen Wasserfall gefunden, der auf so surreale Weise zum Verweilen einlud, dass es schon wieder kitschig war. Die Stille war so pur und intensiv, wie sie sonst nur Alexander Supertramp erfahren durfte.
Aber wie so ziemlich alles im Leben hat auch die Stille zwei Seiten. Supertramp hat die Stille letztlich getötet – und ich gehe nun in dem unter, was darauf folgt.
Denn die zwei Deutschen bildeten lediglich eine Vorhut von mehreren Hundertschaften ambitionierter Powerwanderer, die zum Sonnenaufgang gestartet sind, um beim All-Inclusive-Nachmittagstee im Hotel am Lake Taupo die besten Tische zu ergattern.
Aller Herren Länder
„Hello“, sage ich, als mir kurz darauf eine Horde Chinesen entgegenkommt. „To the left, please“, füge ich hinzu.
Verwundert stellen die Caddymützenträger fest, dass sie von ihrem Reisebus offenbar bis in ein Land mit Linksverkehr chauffiert worden waren. Das mussten sie mal auf der Kamera nachvollziehen, vielleicht wusste die, wie das passiert sein konnte. Ich bleibe dennoch hartnäckig auf der linken Seite. Widerwillig geben die Chinesen schließlich den Weg frei.
Zügig und gleichmäßig steige ich weiter hinauf. Der Weg ist komfortabel ausgebaut. Gummimatten halten den Grund stabil, Treppenstufen helfen dort, wo es mal steiler wird. Professionelle Wanderausrüstung ist eigentlich nicht nötig.
Das kommt mir zugute, denn ich habe keine. Den Großteil meiner Ausrüstung habe ich heute bei meinem Fahrrad gelassen. Ich versteckte es tief ins Unterholz, schlenderte anschließend zehn Mal über den Parkplatz um zu testen, ob man es im Augenwinkel wahrnehmen würde. Die Kleidung und den Großteil meines Essens verstaute ich in den Satteltaschen. Um mein Gefährt wickelte ich eine große Tarpoil-Plane, die ich so gut es ging abschloss.
Immerhin bin ich allein in diesem Land, allein mit meinem Fahrrad, und habe in den vergangenen Wochen eine gewisse Abhängigkeit zu meinem Gefährt entwickelt. Hoffentlich wird nichts gestohlen! Ein kleptomanischer Wanderer, der am Ziel nur ein stilles Örtchen zum pinkeln suchte, könnte meiner Reise ein jähes Ende bereiten.
Eine Flut auf dem Berg
Ich schüttele den Gedanken ab und laufe weiter bergauf. Schließlich will ich das hier genießen. „To the left, please“, sagte ich und ziehe in Erwartung des Aufpralls schon mal die Schultern hoch. Die entgegenkommenden Wanderer sind inzwischen so zahlreich, dass sie beinahe im Gänsemarsch marschieren. Amerikaner, Chinesen, Franzosen und immer wieder Deutsche. Alle laufen sie rechts. Es hätte jedoch keinen Sinn gemacht, ebenfalls rechts zu laufen, denn gelegentlich treffe ich eben auch auf Japaner oder Engländer (und wer weiß: vielleicht ist ja sogar ein paar Neuseeländer darunter), die auf der korrekten Seite laufen.
Es wäre ein kräftezehrender Slalom, und wenn ich den Hügel hinaufsehe, erkenne ich, dass ich noch viel Kraft benötigen werde.
Weiter oben wird das Gelände rauer, der Berg scheint zerklüfteter zu sein, man erkennt nur noch einige Gräser an den Hängen. Der Grund wirkt immer vulkaniger, je höher ich steige. Mehr und mehr Lavabrocken mischen sich in die dunkle Erde.
„To the left, to the left, to the left.“ Inzwischen spare ich mir jede Begrüßung. Ich habe das Gefühl, meine Atemlosigkeit stammt eher von den ständigen Verkehrsanweisungen als von den überwundenen Höhenmetern.
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Wer rastet, der rostet
Plötzlich stehe ich vor einer Hütte. Das kommt ein bisschen überraschend, da ich mich mit der Wanderroute bislang nicht allzu sehr auseinander gesetzt habe. Wie denn auch? Ich habe kein Internet, keinen Reiseführer, lediglich einen Straßenatlas der grade so den Weg bis zum Parkplatz zeigt. Ich weiß, dass die Wandung in etwa 20 km lang ist. Ich weiß, dass die meisten Menschen früh morgen aufbrechen. Was ich bislang nicht wusste, war, dass alle in die entgegengesetzte Richtung laufen.
Der Tongariro Crossing ist kein Rundweg, sondern man beginnt in der Regel westlich des Kraters mit dem Aufstieg und steigt im Norden wieder herab. Natürlich kann man auch andersherum laufen, nur hat man dann 200 Höhenmeter mehr zu bewältigen. Und man hat Ärger mit Geisterfahrern.
Irgendwo zwischen den Europäern, Amerikanern und Chinesen finde ich einen kleinen Platz vor der Hütte, um kurz zu verschnaufen. Es gibt gefiltertes Wasser und so reihe ich mich ein, um meine Vorräte aufzufüllen. Ich versuche immer, meine zwei Wasserflaschen voll zu halten, den man weiß nie was passiert. In meinem Rucksack habe ich Zelt und Schlafsack dabei und Essen für zwei Tage. Am liebsten will ich jedoch heute noch zurück zum Startpunkt gelangen, in die Nähe meines Fahrrades, und mein Zelt neben dem Wasserfall aufschlagen. Es erscheint mir wie eines dieser Dinge, die man getan haben musst, wenn man in der Wildnis lebt: Neben einem Wasserfall campieren.
Der Tongariro Nationalpark
Ächzend wuchte ich den Rucksack auf eine Bank. So hoch beladen ernte ich rundum zweifelnde Blicke. Die meisten Wanderer tragen kleine Tagesrucksäcke, atmungsaktive Textilien und professionelle Wanderschuhe. Und sie haben ihr Ziel beinahe schon erreicht. Es dürfte bereits gegen 14 Uhr sein und ich bin noch nicht mal in Schlagweite des Kraters. Und ich trage Skate-Schuhe und eine Jogginghose.
Eilig verschlinge ich ein paar Erdnussbutter-Gelee-Sandwiches und lasse den Blick in die Ferne schweifen. Unter uns erahnte ich den Parkplatz am Fuß des Berges. Es wirkt wie eine Ebene, mit dem Rotoaira-See kurz dahinter, aber als Radwanderer spüre ich jeden kleinen Hügel in den Beinen. Die Landschaft ist alles andere als flach. Noch einige Kilometer weiter, hinter einigen sanften Hügeln, ist der gigantische Taupo-See zu erkennen. Das flüssige Herz der Nordinsel. Ich halte für einen Moment inne, blende die sportliche Oma aus Dresden aus, die neben mir ihre Nordic-Walking-Stöcke neu zu arretieren versucht, und genieße den Ausblick.
Der Tongariro Nationalpark ist das Prunkstück der seismologischen Wundertüte, die Neuseeland geformt hat. Er formt mit Rotorua und dem Lake Taupo im Zentrum der Insel eine Achse, deren Geschichte mit jeder filmischen Fantasie Roland Emmerichs mithalten kann. Während in Rotorua an jeder Ecke pastellfarbene, nach faulen Eiern riechende Flüssigkeiten an die Oberfläche treten, ist der wunderschöne Urlaubssee Taupo stiller Zeuge einer der größten und bedeutendsten Vulkanausbrüche, die die Menschheit je erlebt hat.
Der Supervulkan
Denn geformt wurde der See von einer Eruption vor etwa 26500 Jahren. Die Menge an herausgeschleuderter Lava war so gewaltig, dass sie im Verdacht steht, den Beginn der letzten Eiszeit mit zu verantworten. Die Asche verdunkelte demnach die Sonne über viele Jahre und sorgte so für eine Abkühlung des globalen Klimas. Die Landmasse sackte durch den Ausbruch auf einer Fläche von der Größe Madrids um 500m ab und die umliegenden Flüsse fluteten die Gegend und sorgten ein paar zehntausend Jahre später für klingelnde Kassen in der Tourismusbranche.
Die letzte Eruption dieses Supervulkans, die im Vergleich zu der grade beschriebenen mit weniger als 10% der herausgeschleuderten Masse wie ein Furz im Orkan daher kommt, lässt sich auch heute noch in den Eisschichten Grönlands ermitteln und etwa auf das Jahr 100 n.Chr. datieren. Damals notierten die Geschichtsschreiber Roms eine rötliche Verfärbung des Himmels. Seitdem hat sich der Vulkan Taupo nicht mehr gerührt – als still gilt er aber nicht. Man kann also durchaus behaupten, dass ich in diesem Moment auf einer tickenden Zeitbombe sitze. Zum Glück tickt sie nur sehr langsam.
Der Tongariro Nationalpark liegt südlich dieser Region und besteht im Wesentlichen aus den Vulkanen Ruapehu, Ngauruhoa und Tongariro. Letzteren bin ich im Begriff zu bezwingen. Aber dafür darf ich nicht länger trödeln.
Ob es sich lohnt?
„Lohnt es sich?“ fragte ich die Ossi-Omi. Sie scheint mit ihren Stecken noch immer nicht ganz zufrieden und sucht weiter nach der optimalen Länge für den Abstieg.
„No.“ Sie nickt heftig. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, dass sie Deutsch mit mir spricht. Ostdeutsch. Sie will wohl Ja sagen.
„Der Töngarirö Weg zählt zü den schönsten Eintogeswonderüngen der Welt“, zitiert sie ihren Reiseführer. „In dör Hauptsäson wondern bis zü fünfhündort Menschn täglüsch über dön Vülkohn. Heut könntens poar mehr sein.“ Sie scheint kurz die Menschentraube um die Hütte numerisch platzieren zu wollen, entscheidet sich dann aber wohl dagegen. „Aber sogen Se mol, wiesö laufen Se denn so herüm?“
Ich blicke kurz an mir herunter und will mich schon für meine Kleiderwahl rechtfertigen, als mir dämmert, dass sie die Laufrichtung meint. Sie und vermutlich alle anderen Wanderer haben einen Shuttle-Service von ihrem Urlaubdomizil am Lake Taupo gebucht, erzählt sie. Diese Shuttles fahren allesamt zum Westparkplatz, pünktlich zum Sonnenaufgang, und lesen die Kunden am Nachmittag am Nordparkplatz wieder auf. Das erklärt wenigstens, warum ich das Gefühl habe, gegen eine Einbahnstraße zu laufen.
„Se höm’s bald geschöfft!“, ruft sie mir nach, als ich mich wieder auf den Weg mache. Die letzten 400 Höhenmeter sind tatsächlich bald überwunden. Der Weg wird ab der Hütte mehr und mehr zu einem Pfad. Offenbar hat man nur den Hüttenbesuchern eine Piste planiert. Nun befinde ich mich im Reich der wahren Wanderer. Deren Zahl lichtet sich allmählich, schließlich geht es auf drei Uhr zu und man will den Tee ja nicht kalt trinken müssen.
„To the left,“ murmele ich mantrisch vor mich hin, obwohl ich längst alleine bin, und stapfe gedankenleer weiter.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, oben zu finden. Ich mache mir eigentlich schon lange keine genauen Vorstellungen mehr davon, was mich am Tag erwartet. Meistens sind es gute Dinge, aber es kann auch mal eine gebrochene Speiche sein, und über solche Optionen will ich lieber nicht zu viel nachdenken. Ich genieße es einfach, zu erleben, was ich erlebe. Zu radeln, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, oder eben zur Abwechslung auch mal zu marschieren. Trotzdem bleibe ich unwillkürlich stehen, als ich den Kamm zum Krater endlich erreiche, und vergesse, den Mund zu schließen.
Eine Schoko-Frucht-Karamell-Schlumpf-Torte
Wenn man eine Torte backt, mit Schokolade und Früchten gefüllt, und ein paar von den leckeren Fruchtgummi-Schlümpfen, und wenn man diese Torte dann auf den Herd stellt und wartet bis sie explodiert, dann bekommt man ein ungefähres Bild davon, wie es im Krater des Tongariro-Vulkans aussieht.
Zu meiner Rechten liegt der Zentrale Krater, wie er schlicht genannt wird. Eine riesige karamellbraune Ebene, in deren Mitte sich schwarze Lakritze zu schichten scheint. Erstarrte Lava die wirkt, als sei sie eben erst den Hang runtergerutscht. Schroffe Berge umrahmen die Landschaft, an denen sich Wolken türmen. Mit einem Mal ist es kalt geworden. Der Wind pfeift unerbittlich hier oben. Ich ziehe Mütze und Jacke an uns marschiere am Osthang um die Ebene herum.
Plötzlich öffnet sich die Landschaft zu meiner Linken und ein saphirblauer See strahlt eine Frische aus wie sonst nur eine WC-Werbung von Meister Proper. Die Farbe leuchtet so satt und rein, dass ich versucht bin, einen Schluck zu nehmen und zu Gurgeln. Für länger anhaltende Atemfrische.
Ich bleibe stehen. Ich sehe mich um. Ich bin allein.
Keine Spur mehr von den über fünf hundert Wanderern, die hier am Vormittag noch drübergewalzt sind. Ich stoße einen Laut der Verzückung aus. Ich jauchze. Ich jodele. Ich saug die Luft ein und schreie sie wieder aus, ich reiße die Arme nach oben, ich mache zahllose Fotos von mir selbst. Keines davon kann einfangen, wie ich mich fühle. Plötzlich habe ich das Bedürfnis, dieses Erlebnis mit jemandem zu teilen. Doch nur Augenblicke später wird mir bewusst, dass ich es nur deshalb so intensiv spürte, weil ich alleine bin.
Ich lebe. Das ist mein Moment. Ich bin allein im Herzen eines aktiven Vulkans.
In der Ferne droht Mordor
Nach Süden hin öffnet sich der Krater und man überblickt über eine weite Ebene bis zum Vulkan Ruapehu. Eine Mischung aus karger Erdlandschaft und schwarzen Lavafeldern durchzieht die Täler. Wolken werfen wilde Schatten, heben sich und zerstieben an den Bergen, als würden Himmel und Erde eins.
Lange verharre ich nicht, denn es ist definitiv zu kalt, um hier oben die Nacht zu verbringen. Die Vorstellung war mir gestern noch romantisch erschienen, doch nun, weitere tausend Meter oberhalb der eisigen Wiese, auf der ich die letzte Nacht verbracht habe, erscheint sie mir lebensgefährlich. Ich muss unbedingt wieder das Tal erreichen. Am besten, ich finde noch am Abend eine Möglichkeit, zurück zu meinem Fahrrad zu gelangen. Der Wasserfall erscheint mir verlockend für mein nächstes Nachtlager.
Der Pfad führt mich durch den Krater hindurch, bis zu dessen Westrand. Dort steige ich einen Hang aus losem Lavageröll hinauf, immer einen Schritt voran und einen halben zurück. Ich muss meine Hände zu Hilfe nehmen und zucke erschrocken zurück. Die Steine sind warm.
Je höher ich komme, desto heißer werden sie und erst jetzt merke ich, dass unmittelbar links von mir ein weiterer Krater liegt. Er glüht rot aus seinem Schlund. Der Boden ist aus meiner Position nicht zu erkennen und ich wage es nicht, meinen Kopf weiter nach vorne zu schieben. Zu lose erscheint mir der Grund, zu steil der Hang. Ich würde als einsames, vom Stock gefallenes Marshmallow in die Geschichte dieses Vulkans eingehen.
Dämpfe steigen auf und stechen in die Nase. Es riecht nicht unbedingt nach Schwefel, aber doch nach einer Hitze, die zweifellos tief auf dem Inneren der Erde dringt. Oben bleibe ich noch einmal stehen. Das heißt, ich springe vom linken Fuß auf den rechten, denn die Hitze greift meine Gummisohlen an und meine Füße werden heiß. Hinter dem Krater liegen weitere smaragdgrüne Seen, die sich wie kleine Juwelen in die Aussicht über das Zentrum der Nordinsel einfügen. Ein letztes Mal sauge ich die Eindrücke auf. Dann mache ich mich an den Abstieg.
Noch ein Krater?
Es folgt zu allem Überfluss noch ein dritter Krater, bereits zwei hundert Meter unterhalb des rot glühenden Gipfels. Wolken hängen so tief über dem kargen Tal, dass man die Wegmarkierungen kaum sieht. Es ist eine mystische Stimmung. Beinahe erwarte ich, dass Gollum hinter einem der Felsen auftaucht.
Tatsächlich liegt irgendwo im Nebel zu meiner Linken Mount Ngauruhoe, ein perfekter, konischer Berg, den Peter Jackson digital in den Schicksalsberg von Mordor transformierte. Bei der schroffen, vulkanischen Landschaft in seinem Umland ist nicht mehr viel Fantasie nötig, um sich vorzustellen, dass Gollum gleich hinter der nächsten Ecke wartet.
Stattdessen stolpere ich plötzlich in vier Mädels. Sie sind wie ich auf eigene Faust unterwegs, haben ihren Van am Westparkplatz abgestellt und sind nur gemütlich bis zum Rand des roten Kraters geschlendert. Und sie wollen heute noch ein Stück nach Norden fahren. Sie können mich mit zurücknehmen!
Auf den letzten Kilometern durchwandern wir ein Tal mit schroffem Granit und saftigem Grün, das mich sehr an Bilder aus den Dolomiten erinnert. Ich frage mich, welche Klimazone ich heute eigentlich noch nicht durchlaufen habe.
Kleine Bachläufe kreuzen ständig unseren Pfad und es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich ein paar alpine Böcke oder gar skandinavische Rentiere aufgetauchen. Es ist – obgleich nicht viel höher gelegen als die Nordseite – ein krasser Gegensatz zu dem Regenwald, in dem ich mein Fahrrad versteckt habe.
Noch vor Sonnenuntergang laden mich die jungen Damen auf dem Parkplatz ab, an dem ich begonnen habe. Es bleibt mir grade noch genug Zeit, den Wasserfall zu erreichen. Ich habe es geschafft!
Ein romantischer Albtraum
Mittags hatte ich noch davon geträumt, einmal an einem solchen Ort zu übernachten. Dann entfernte ich mich über zwanzig Kilometer davon und brachte einen Kilometer hohen aktiven Vulkan zwischen uns. Und doch wird der Traum nun am Abend Wirklichkeit.
Leider stellt sich nur wenige Stunden später heraus: Es ist ein Albtraum.
Postkartenmotive haben mit der Realität oft wenig gemein. Ein Blick auf den Palmenstrand zeigt nicht den zementierten Parkplatz im Rücken des Fotografen. Auf dem Bild vom Sonnenuntergang sieht man nicht die Moskitos, die einen bis auf den letzten Tropfen aussaugen. Und das Rauschen eines Wasserfalls ist eben nicht romantisch, sondern einfach nur laut.
Ich spüre jeden Meter des Tages in den Knochen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als einen erholsamen Schlaf. Stattdessen stehe ich mehrmals in der Nacht auf, weil ich Sorge habe, dass der Wasserspiegel gestiegen ist und mein Zelt wegspült. Der Krach des Falls drückt mir auf die Schläfen wie das Hämmern eines Schlagbohrers.
Stunde um Stunde vergeht und ich sabbere erschöpft in den Schlafsack, ohne Ruhe zu finden. Oben im Krater mag es jetzt kalt sein – aber zumindest auch still wie im Grab. Ich wünsche mir die Stille eines Alexander Supertramp, auch wenn dies die eines Grabes wäre. Stattdessen liege ich hier und halluziniere von geisterfahrendem Wasser, das mir entgegen schießt, mich überrennen will, und winde mich auf der Matte.
„To the left“, murmele ich und versuche das Wasser beiseite zu wischen. „To the left, to the left, to the left!“
Das Wichtigste in Kürze
- Das Wichtigste zuerst: die Karte. Hier siehst du den Verlauf des Wanderweges:
- Shuttlebusse bringen dich von den typischen Touristenorten der Umgebung (z.B. von Lake Taupo) in aller Hergottsfrüh zum westlichen Parkplatz. Es empfiehlt sich durchaus, gleich den ersten zu nehmen, damit noch nicht allzu viele Menschen mit dir über den Berg walzen. Eine eigene Anreise geht natürlich auch.
- Der westliche Parkplatz liegt auf ca. 1120m, der höchste Punkt der Wanderung auf knapp 1900m. Wenn man den Gipfel noch bezwingen mag (kleiner Umweg), kommt man auf knapp 2000m. Der Parkplatz im Norden liegt auf ca. 760m. Deshalb beginnen auch eigentlich alle Menschen am westlichen Parkplatz und lassen sich im Norden abholen. Eine gutes Höhenprofil findest du in der Broschüre des Department of Conservation
- Es gibt eine Hütte nahe des westlichen Parkplatzes. Wenn man aber früh genug startet, ist die Wanderung gut in einem Tag zu schaffen. Die Hütte ist ohnehin so nah am Parkplatz gelegen, dass man mit ihr die Wanderung nicht wirklich unterteilen kann.
- Oben im Krater kann es empfindlich kalt werden, auch wenn gutes Wetter angekündigt ist. Eine ordentliche Jacke muss also selbst im Hochsommer eingepackt werden.
- Weitere Infos und Tipps, zum Beispiel zur empfohlenen Ausrüstung, findest du auf der Seite des Department of Conservation
Schön geschrieben. Ich hab förmlich mit dir gefühlt. Das mit dem links wandern haben nicht viele drauf.
In der Hauptsaison begegnest du jeden Tag um die 4000 Leute auf dieser Wanderung. Da hast du vermutlich noch einen recht entspannten Tag gehabt.
Lieben Gruß Julian
Servus Julian,
Freut mich, wenn dich mein Artikel an deine eigene Wanderung erinnert hat. Ich habe zwar nicht mitgezählt, 4000 werden’s aber wohl nicht gewesen sein. Vielleicht hatte ich wirklich Glück! 😀
Hahaha.. toll geschrieben. Bringt mir ein wissendes Schmunzeln auf die Lippen und weckt die Sehnsucht, wieder einmal an diesen Ort zurückzukehren. Beeindruckend, einzigartig und wieder einmal ein Beweis, wie klein wir Menschen eigentlich sind. Danke!