Der Arctic Circle Trail ist einer der schönsten und einsamsten Wanderwege der Welt. Er liegt an der Westküste Grönlands und führt von Kangerlussuaq, am Ende eines langen Fjords, durch zahlreiche Täler an kristallklaren Schmelzseen vorbei durch die Wildnis bis zum Polarmeer bei Sisimiut.
Im August 2017 folgte ich mit meiner Freunden diesem Trail. Im ersten Teil trafen wir einen verrückten Jogger, halfen einer verletzten Frau bei ihrer Bergung – und saßen plötzlich im Rauch. Zwei bange Tage später stehen wir vor brennendem Boden. Wir finden ein altes, löchriges Kanu am angrenzenden Seeufer. Ob es uns damit gelingt, das Feuer zu umfahren?
Hier findest du übrigens alle Artikel über unsere Reise durch Grönland!
Tag 5: … vom Feuer bis zum Kangerluatsiarsuaq-See (mit dem Vormittag 16km)
Lieber an Tag 1 beginnen? Hier gelangst du an den Anfang!
Zaghaft durchbrechen unsere Paddel die spiegelglatte Oberfläche des Sees. Nach ein paar Metern fällt der Boden unter uns jäh ab und die eigentlich kristallklare Sicht verliert sich im Dunkel. So bleiben wir nah am Ufer, links das Feuer, rechts die Untiefen des Amitsorsuaq-Sees.
Große Teile des Hangs sind bereits verkohlt, die ohnehin karge Buschlandschaft hat sich in schwarze Gerippe verwandelt. Unter dem Boden schwelt der Brand weiter. Immer wieder steigen Rauchsäulen in die Höhe, gelegentlich züngeln Flammen an noch lebenden Büschen empor. So schön dieser See und die Kanufahrt eigentlich ist, so schauderhaft ist der Anblick zu unserer Linken.
Irgendwann ist der See zu Ende – das Feuer leider nicht. Unser Plan, das Feuer zu umfahren, geht nicht auf, auch wenn offenbar schon andere dieselbe Idee hatten: Es liegen bereits acht Kanus am Ende des Sees. Wir ziehen unseres daneben und überlegen, wie wir jetzt am besten weitermachen, als plötzlich der Franzose wieder vor uns steht, der uns eigentlich schon heute früh überholt hat (–> siehe Teil 1 dieses Wanderberichts).
Er hat ein bisschen Schiss, alleine durch die schwelende Glut zu laufen – was ich verstehen kann – aber vor allen Dingen hat er ein goldenes Näschen. Das kann ich allerdings nicht so ganz verstehen.
„Ich habe euch gerochen!“, behauptet er stolz. „Ich war ein Stück weiter am vespern, da roch ich plötzlich ein Shampoo, das einer von euch gestern benutzt haben muss.“
Er stand etwa 200 Meter von uns entfernt, als wir das Ende des Sees erreichten – ein überaus leistungsfähiges Näschen wäre das.
„Sicher, dass du nicht das hier gerochen hast?“, biete ich ihm höflich einen Ausweg aus seiner unglaubwürdigen These und rupfe etwas Kraut vom Ufer. Die Pflanze sieht aus wie Rosmarin und verströmt bei Berührung einen Duft von Minze und Zitronengras.
Aber er beharrt auf seine Supernase. Mir fallen die beiden anderen Franzosen ein, die wir auf dieser Wanderung bislang getroffen haben, und sehe mein Vorurteil bestätigt: Die spinnen, die Gallier!
Zwangsweise suchen wir uns einen Weg am Abfluss des Sees. Im Frühjahr scheint der Fluss ziemlich breit zu sein, jetzt muss man das Wasser zwischen den Steinen allerdings suchen. Das kommt uns zugute, denn so können wir von Fels zu Fels hüpfen. Hier gelangt das Feuer nicht hin. Wir haben Glück, dass es nach wie vor praktisch windstill ist und so erreichen wir nach einer ermüdenden Kraxelei über mehrere hundert Meter endlich wieder grüne Wiese.
Wer rastet, der rostet
Wir haben es geschafft! Das Feuer liegt hinter uns! Erleichtert bringen wir noch ein paar Kilometer zwischen uns, folgen dem Pfad parallel zum Flussbett. Dann, endlich, machen wir Mittagspause. Meine Freundin und ich futtern unser übliches Luxusmahl. Knäckebrot und Salami, Müsliriegel und Nüsse. Ein bisschen bemitleiden wir uns, weil wir gestern das letzte Stück Kohlrabi verputzt haben.
Der Franzose guckt bedröppelt aus der Wäsche und isst nichts.
„Hast du keinen Hunger?“, frage ich.
„Ich habe gutes Essen dabei!“, verteidigt er sich ungefragt. „Aber ich habe vor dem Feuer in der alten Kanuhütte ewas Müsli gefunden, das habe ich mir eben, als ich euch roch, mit etwas Wasser reingedrückt.“
Wenn jemand Müsli mit Wasser als geschmackvoller bewertet als sein eigenes Essen, so scheint mir, darf man auch mal nachfragen, was er denn eigentlich „gutes“ dabei hat.
„Ich habe ein Kilogramm Mandeln dabei für die Fette!“, sagt der Franzose stolz. „Zudem Müsliriegel für die Kohlehydrate und Proteinpulver zum Trinken. Ich habe an alles gedacht!“
Der spinnt, der Gallier. Denke ich.
Wir schenken ihm ein Säckchen Reis und ein paar Linsen. Vielleicht trifft er ja andere Wanderer, von denen er sich einen Kocher leihen kann. Seine Augen leuchten auf in seinem ansonsten erschöpft wirkenden Gesicht. Er sieht aus, als hätte er Schmerzen.
„Blasen“, sagt er. „Aber die kriege ich immer beim Laufen. Ich habe super Schuhe von der Schweizer Armee!“
Mindestens so super wie sein Essen, da bin ich sicher. Mitleidig schenken wir ihm ein paar Compeed-Blasenpflaster.
Der Weg ist – bis auf den Bereich mit dem Buschbrand – leicht zu gehen heute, da es permanent bergab geht. Das Tal ist breit und der Pfad gut zu erkennen. Und am Nachmittag erreichen wir den schönsten Fleck Erde, den ich jemals sah.
Das Paradies? Nichts wie weg!
Vor uns strahlt der Kangerlutsiarsuaq-See in Farben, wie sie sonst nur der Filter eines iPhones zurechtschummelt. Hinter einer kleinen Erhöhung liegt eine langgezogene Bucht, die von einem feinen, leuchtenden Sandstrand umrahmt wird. Das Tal läuft zwischen den Bergen sanft zu diesem Strand aus und bietet herrliche Zeltmöglichkeiten. Uns ist sofort klar: Hier bleiben wir heute nacht.
„Ich geh dann noch drei oder vier Stunden“, sagt der Franzose. „Ich will den Wanderweg in fünf Tagen schaffen. Vielleicht gehe ich dann gleich wieder zurück, denn ich habe noch Zeit.“
Mit seinem müden Gesicht schenkt er uns ein gequältes Lächeln, dann ist er fort. Der spinnt total, dieser Franzose.
Wir genießen den Abend bei einem eiskalten Bad im See. Es ist surreal schön hier. Durch den flachen Abfall des Strandes schimmert das ufernahe Wasser wie in der Karibik.
Wir haben jetzt ungefähr die Mitte des Arctic Circle Trails erreicht. 80 km in jede Richtungen gibt es keine Spuren von Zivilisation. Es ist eine erhabene Vorstellung. Man fühlt sich ganz klein an diesem Ort. Und doch fühlt man sich als Teil von etwas großem. Als würde man eigentlich hierhin gehören.
Nach dem Essen bemerke ich beim Abwasch ein paar Fische, die ungewohnte Neugier zeigen. Sie sind fingerlang und zeigen keinerlei Scheu. Als ich einen vorsichtig mit der hohlen Hand hochhebe, bleibt er entpannt liegen.
Wo sind wir hier? Im Schlaraffenland? Ich will hier nie wieder weg.
Tag 6: Vom Kangerluatsiarsuaq-See bis ins Tal von Ole’s Lakseelv (17km)
„Lasst euch nicht von einem Eisbären essen“, war der meistgehörte Satz von Freunden, als wir von unserer Urlaubsplanung in Grönland erzählten. Aber ein Eisbär, der sich in diese Hitze verirrt, muss schonmal grundsätzlich verhaltensgestört sein. Wir sind jetzt am achten Tag in Grönland und haben an sechs davon praktisch keine Wolken gesehen. In der Sonne hat es locker 25 °C.
Heute müssen wir ein kleines Massiv überwinden. Es geht hoch hinaus, doch von hier oben haben wir eine tolle Aussicht auf die uns umgebenden Seenlandschaften. Wir strapazieren den Schließer unserer Kamera, bis der Finger qualmt. Ein Rentier folgt uns eine Weile, beäugt uns neugierig aber schüchtern, nähert sich immer wieder zaghaft und springt dann wieder ein paar Meter zurück. Wie die Fische scheint es keine angeborene Angst vor dem Mensch zu haben. Nicht nur für uns scheint das Land ein Paradies zu sein.
Mittags erreichen wir die kleine Schutzhütte, die der Franzose gestern noch erreichen wollte. Rings herum ist alles verbrannt. Letztes Jahr muss der Brand stattgefunden haben und die Spuren halten erst zehn Meter vor der Hütte. Ein Eintrag im Hüttenbuch legt den Verdacht nahe, dass hier ein paar Trottel versucht haben, ihren Müll zu verbrennen, um ihn nicht weiterschleppen zu müssen. Pfiffige Kerle.
Unser heutiges Ziel ist ein weites Tal zwischen zwei Gebirgszügen, das von oben bombastisch aussieht. In der Mitte fließt ein Fluss, der am fernen Ende in einen Fjord mündet. Grüne Feuchtwiesen machen es zu einem Paradies für Rentiere. Auf einem hervorstehenden Felsen stimme ich spontan den „Ewigen Kreis“ aus dem König der Löwen an. So ungefähr ist die Aussicht hier, nur halt auf nordisch.
Nach dem Abstieg sehen wir, was aus den Rentieren geworden ist. Der ewige Kreis wurde vom Mensch mit seinen Feuerwaffen in einen eiernden Achter umgewandelt. Denn überall liegen die Reste der Tiere verstreut, das heißt, mehr als das Fell und ihr Geweih ist nicht geblieben. Da wurde ihnen ihre fehlende Scheu offenbar zum Verhängnis.
Die Felle sind weiß, sie wurden also wohl schon im Frühjahr geschossen. Auf den Geweihen liegt wie als Trophäe eine Patronenhülse. Über den Fjord kommen im Frühjahr wohl die Inuit zum jagen. Zum Glück ist heute mal wieder kein Mensch zu sehen. Wir errichten unser Zelt am Flussufer und freuen uns, dass wir heute erstmal keinen einzigen Menschen gesehen haben.
Um neun Uhr, kurz nachdem der Berg begann, seinen Schatten über das Tal zu werfen, muss ich nochmal kurz raus aus dem Zelt. Und plötzlich taucht doch noch einer auf. Ich sehe schon von weitem, dass es ein Franzose ist. Dafür brauche ich nicht mal besonders gute Augen (oder eine besonders gute Nase), denn es genügt ein Blick auf die Uhr. Wer um diese Zeit noch unterwegs ist, muss Franzose sein.
Schade, zum ersten Mal werden wir wohl unseren Nachtplatz teilen müssen. Von fern schon fuchtelt er mit seinen Wanderstöcken.
„W’ere is sö best way tu cröss sö rivör?“ Jawohl, eindeutig ein Franzose. Ungläubig frage ich, wie weit er denn noch laufen will.
„Sö next -ut“, sagt er. Ich staune nicht schlecht. Die ist noch anderthalb Stunden entfernt. Ich zeige ihm die flachste Stelle des Flusses. Die Überquerung ist kein Problem, dann putzt er sich ungefähr ne halbe Stunde die Füße mit der Socke trocken und winkt zum Abschied.
Na dann gute Nacht!
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Tag 7: Von Ole’s Lakseelv bis zum Nordende des namenlosen Sees (18km)
14km sind Genusswandern. 16km sind sportlich, aber vergnüglich. Ab 18km hat der Spaß ein Loch.
So nah liegen Freud und Leid in der Wildnis zusammen. Aber so ein Pfad durchs Fjäll ist eben nicht mit einem Forstweg im Schwarzwald zu vergleichen. Und 20kg sind nicht das, was ich zum normalen Tagestrip in die Alpen mitnehme. Immerhin sind wir inzwischen bei etwa 20 kg Gepäck, vielleicht sogar drunter. Das Wandern wird täglich leichter.
Der Morgen wird uns durch einen Seeadler versüßt, der seine Runde über dem Tal dreht. Dann geht’s wieder rauf, bald kommt die Hütte, die der Franzose gestern noch erreichen wollte. Von fern sehen wir ihn und er uns. Erschrocken eilt er in die Hütte, holt sein Zeug und wandert los. Der denkt sich wahrscheinlich, dass er von solchen langsamen deutschen Genusswanderern doch nicht den Schneid abkaufen lässt!
Tut er umso mehr, denn als wir auf den höchsten Punkt der Etappe erreichen, genießen wir die Aussicht auf einen See weit unten und vespern unser königliches Mahl. Da kommt er plötzlich vor uns den Hang hochgekraxelt.
„I lose sö way“, sagt er und schiebt sich einen Powerriegel quer rein. Das ist offensichtlich seine Mittagspause gewesen. Und offensichtlich freut er sich jetzt doch, uns zu sehen. Er ist erleichtert, dass er den Weg wiedergefunden hat. Tja, wäre er mal nicht so gerannt, dann hätte er den Pfad vielleicht nicht aus den Augen verloren. Er war ein paar Quad-Spuren gefolgt – die ersten seit dem ersten Tag übrigens -, die wohl die Jäger aus dem anderen Tal hinterließen, um an dem See zu fischen. Vor lauter Geschwindigkeit hat er den Weg verpasst.
Wir laufen kurz gemeinsam, doch wir merken bald, dass es ihn in den Beinen juckt.
„I want tu du sö trail in six day“, sagt er. Wir lassen ihn durch und fort ist er.
Am Abend campen wir erneut an einem See und genießen die Abendsonne bis zehn Uhr. Die Berge stehen günstig heute, die Sonne verschwindet erst spät.
Das einzige Geräusch kommt von einem plätschernden Bach auf der anderen Seite des Sees.
„Hör mal, wie schön!“, sagt meine Freundin. Eine Weile lauschen wir andächtig. Bis ihr auffällt: „Klingt eigentlich wie die A8 bei Rosenheim.“
Tag 8: Vom Nordende des namenlosen Sees bis Ende des Hochplateau hinter den Innajuattoq-Hütten (17km)
Wo sind eigentlich die Moschusochsen? Die soll es in dieser Region von Grönland doch geben. Bislang beschränken sich unsere Nahtiererlebnisse auf ein paar Rentiere und jede Menge Vögel. „Mosch, Mosch, Mosch!“, locke ich die schüchternen Tiere.
Die Sonne treibt uns erneut voran. Morgens schiebt sie uns, Mittags überholt sie uns, und Abends wartet sie schon im Ziel. „Mosch, Mosch, Mosch!“, rufe ich erneut. Hätte ich lassen sollen. Denn nahe des Sees, wo die Innajuattoq Hütten liegen (jawohl, es gibt gleich zwei davon), ändert sich die Landschaft. Wir müssen ein paar Feuchtwiesen überqueren und das Buschwerk wird höher und dichter. Und Gaia hat meinen Lockruf offenbar falsch verstanden und schickt und Mücken. „Mozz, Mozz, Mozz!“
Unsere lächerlichen, tragbaren Mückengitter stellen sich als Goldgriff heraus. Die Hutkrempe spannt ihn grade so angenehm auf, dass ich nicht ständig mit der Nase daran stoße. Da hat sich doch jeder Witz meiner Freundin über meinen albernen Walter-White-Hut gelohnt! Ha! Großartig. Leider ist die Gore-Tex-Membran meiner Schuhe hin, und meine Füße bald nass.
Als wir in der Ferne einen erneuten Abstieg in ein Flusstal sehen, beschließen wir, für heute oben zu bleiben. Hier weht der Wind und die Mücken bleiben am Boden. Der See schmeckt zwar etwas schlammig, aber es erscheint uns die bessere Wahl.
Tag 9: Vom Ende des Hochplateaus hinter den Innajuattoq-Hütten fast bis zum Fjord Kangerluarsuk Tulleq (21km)
Jeder Mensch hat seine Schwachstelle. Bei Cindy Crawford ist es das Muttermal. Brad Pitt ist schlecht im Bett. Jedenfalls gehe ich davon aus, alles andere ergäbe keinen Sinn. Unsere Achillesverse ist der Zeltabbau. Schon in Schweden war das ein Reizthema, inzwischen spalten wir uns zwar nicht mehr die Köpfe, brauchen aber doch länger, als auf der Gebrauchsanweisung behauptet wird.
Am Morgen scheint es zu regnen. Komisch, dabei bricht doch die Sonne durchs Zelt. Ein Blick nach draußen zaubert Entrückung auf unsere Gesichter: Millionen und Abermillionen Mücken donnern auf unsere Zeltplane. Gaia hat Verstärkung geschickt. Lange Rede, kurzer Sinn: Heute schaffen wir den Abbau unseres Lagers in der halben Zeit.
Ich bin froh, dass es bald bewölkt ist, so kann ich gelegentlich die Jacke anlassen. Solange wir in Bewegung bleiben, geht es aber eigentlich mit den Mücken. Hinter jedem von uns schwebt eine Wolke aus Myriaden Blutsaugern und kleinen Fliegen, die eigentlich noch störender sind, denn sie stehen auf Körperöffnungen wie Ohren und Nasenlöcher.
Das Essen wird heute zum Akt der Kunst, so unterm Netz durch. Gelegentlich vergisst man es und kaut das Mesh. Macht nichts, schmeckt geschmacksneutral. Die Socken sind noch immer feucht und die Ersatzsocken habe ich ja leider im Zelt auf dem Inlandeis vergessen. Schade, denn heute wollen wir die längste Strecke unserer Wanderung machen, 21 km. Damit wir die letzten zwei Tage ein wenig gemütlicher machen können, sodass wir am Samstag, dem geplanten Tag unserer Ankunft, ganz gemütlich die Fähre nach Norden erwischen. Wir wollen nämlich noch zu den Eisbergen, und diese Fähre fährt nur einmal pro Woche. Beinahe täglich rechnen wir panisch nach, ob wir uns auch nicht im Wochentag irren. Wie lang sind wir jetzt nochmal unterwegs? Es kommt uns vor wie ein halbes Leben.
Am Abend ist es tief bewölkt. Die Feuchtwiesen sind heimtückige Fallen und meine Schuhe komplett durchnässt. Aber heute werden sie wohl nicht mehr trocknen. Egal, die letzten zwei Tage schaffen wir es jetzt auch noch!
Tag 10: Fast vom Fjord Kangerluarsuk Tulleq bis Sisimiut (26km)
Heute Nacht hat es doch tatsächlich ein bisschen geregnet. Zum ersten Mal, seitdem wir in Grönland sind! In unserer letzten Nacht des Trails! Die letzte Nacht? Ich greife voraus.
Wir wandern zunächst steil nach oben und erreichen bald die letzte Schutzhütte des Arctic Circle Trails. Von hier hat man einen tollen Blick über den Fjord. Jawohl ein Fjord! Wir sind fast am Meer! Es sind noch 22,5 km. Und plötzlich manifestiert sich ein Bild vor unseren geistigen Augen. Das Bild unsere Ankunft in Sisimiut. Das Bild einer warmen Dusche am Abend, und eines Essens im Restaurant. Wenn wir Gas geben, können wir es schaffen! Wir sind eh sehr flott unterwegs inzwischen!
„Sollen wir nur schnell einen Müsliriegel essen?“, frage ich meine Freundin, die grade die Fischerhütten bewundert, die in der Ferne vereinzelt am Fjord stehen. Die ersten Anzeichen von Zivilisation.
„Oui“, antwortet sie und schiebt sich den Riegel quer rein.
Kurz darauf haben wir uns verlaufen. Jahaa, so schwer ist das am Ende doch nicht, wenn man nur Augen für den nächsten Pass hat. Aber die Beschreibung des Outdoor-Handbuchs, so gut sie sonst passen, ist hier Quatsch. Immer schön oben am Hang halten!
„Sacre-bleu“, fluche ich erleichtert, als wir endlich den richtigen Weg finden.
Am Ende des letzten steilen Aufstiegs, wo wir den Fjord wieder verlassen, steht ganz unverkennbar ein Klohäuschen. Ganz im Ernst. Vermutlich haben die Mitglieder des Schneescooterclubs Sisimiut, die in der Nähe ein Vereinsheim haben, im Bierdunst einer Vereinsfeier beschlossen, das Klo mit der schönsten Aussicht der Welt zu bauen. Leider sitzt man mit dem Rücken zum Fjord. Und im Dunkeln, denn es wurden sowohl Fenster als auch Licht vergessen. Vermutlich waren sie beim Bau noch immer betrunken.
Die Zeichen der Zivilisation verdichten in Form von zerfallenen Schlitten und Zielfahnen eines Cross-Country-Rennens. Aber es ist nochmal verdammt hübsch hier. Hatten wir gar nicht erwartet. Nach einem Fjäll, dass eine gelungene Symbiose aus Mond- und Teletubbieland darstellt, haben wir das eigentliche Tagesziel erreicht. Um 14:30 Uhr. Es sind nur noch 11km bis ins Ziel.
Klar, dass wir weiterlaufen. Zum Abschied aus dieser herrlichen Natur reißt nochmal die Wolkendecke auf und schenkt uns ein herrliches Panorama aufs Kaellinghaetten-Massiv. Schaut aus wie in den Alpen hier, an der Grenze von Wiese zu hochalpin. Die Füße schmerzen, doch die gute Stimmung trägt uns weiter.
„Un kilomètre à pied,
ça use, ça use…“
Singen wir jetzt wirklich schon auf Französisch?
Zur Rechten erscheint ein Skilift, wir fliegen weiter durchs Tal, bis wir es schließlich um die Ecke blitzen sehen: Sisimiut! Bis wir endlich da sind, vergehen weitere zwei Stunden, doch endlich begrüßen uns die Schlittenhunde vor dem Ort. Wir sind da!
Im Hostel begegnen uns die zwei Franzosen, der mit den Mandeln und der andere bekloppte. Sie sind überrascht, dass wir schon da sind, sie haben uns erst morgen erwartet. Als wir erzählen, wo wir heute früh aufbrachen, sind sie beeindruckt.
„Nicht viele Wanderer können so weit gehen“, sagt der mit den Mandeln.
„Je sais“, antworte ich. „Seulement les Français.“
Letztlich verzichteten wir sogar auf weiteres Kartenmaterial, die Skizzen in diesem Buch waren ausreichend. (Das würde ich allerdings nur bei gutem Wetter empfehlen.)
Wahnsinn!
Ihr habt ja zum Schluss nochmal richtig Strecke gemacht.
Die Fotos sind toll. Ich will auch nochmal nach Grönland. Es ist so schön da.
LG
DieReiseEule
Je mehr man isst, desto leichter wird der Rucksack 😉
Wir hatten knapp 10kg Nahrung dabei, die wir gegen Ende verputzt hatten. Und ein bisschen fitter wird man ja auch. Aber ja, wir waren auch erstaunt, um wieviel es nach einer Woche plötzlich leichter ging! 🙂