ACT-Tag2-Lager

Der Arctic Circle Trail ist einer der schönsten und einsamsten Wanderwege der Welt. Er liegt an der Westküste Grönlands und führt von Kangerlussuaq, am Ende eines langen Fjords, durch zahlreiche Täler an kristallklaren Schmelzseen vorbei durch die Wildnis bis zum Polarmeer bei Sisimiut.

Im August 2017 folgte ich gemeinsam mit meiner Freundin dem Trail. Die 160 km (ohne das erste Stück entlang der Straße) bewältigten wir in 9 Tagen. Hier findest du meinen Bericht mit vielen hilfreichen Hinweisen und Tipps!

Hier findest du übrigens alle Artikel über unsere Reise durch Grönland!
Du hast Teil 1 schon gelesen? Hier geht’s gleich weiter zu Teil 2!

Tag 1: Von Kangerlussuaq bis hinter Kellyville (2km, normal 17km)

An Tag 1 folgt man fünf Stunden lang einer staubigen Schotterstraße. Kann man schon machen. Grade noch rechtzeitig erinnern wir uns jedoch an die weisen Worte eines Berliner Gelehrten (–> hier geht’s zurück nach Kangerlusssuaq): „Würdest du neben einer Autobahn wandern?“ Würden wir nicht.

Das kann man auch anders sehen. Ein deutscher Wanderer, mit dem wir auf der Campingwiese von Kangerlussuaq ins Gespräch kamen, will unbedingt den Anfang entlang der Straße mitnehmen um, wie er sagt, „überhaupt erstmal richtig in Grönland anzukommen, um den Übergang von Zivilisation zur Wildnis richtig zu begreifen.“ Fairer Punkt. Wir sind allerdings der Meinung, dass wir recht schnell von Begriff sind.

Deshalb haben wir uns gestern spontan einer 2-tägigen Expedition aufs Inlandeis (–> hier geht’s aufs Inlandeis) angeschlossen und lassen uns heute vom Guide direkt zum richtigen Einstieg fahren. Der liegt circa. 1km hinter Kellyville, dort wo die Straße eine scharfe Linkskurve macht, direkt unterhalb eines kleinen Häuschens. Das sage ich deshalb so eindringlich, weil uns der Guide in die falsche Richtung zeigt und wir kurz darauf zwar am korrekten ersten See ankommen, allerdings auf der falschen Seite.

Eine vermeidbare Bergumrundung später sind wir dann am richtigen Ort und errichten unser Zelt. Die Wildnis! Man kann sie schon riechen und hören!

ACT-Tag1-Lager
Unser erstes Lager in der Wildnis. Nach einer unnötigen Seeumrundung finden wir dann auch den Pfad. Egal, es riecht nach Freiheit!

Tag 2: Von hinter Kellyville bis zum Quarlissuit-See (15km)

Die Wildnis riecht nach Zigarette und klingt verdächtig nach Jägern, die nachts an unserem Zelt vorüberziehen. Ein paar flüchtende Rentiere sind vermutlich auch darunter, oder Jäger mit schwerem Asthma und harten Fußsohlen. Heute ist der 3. August und vor zwei Tagen war Jagderöffnung. Schätze mal, am ersten Tag wird noch einiges los sein in der Einsamkeit der arktischen Wildnis. Egal, Zelt zusammenpacken und los!

* * *

Man sagt, dass man so langsam joggen sollte, dass man sich nebenher noch unterhalten kann. Dementsprechend finde ich, dass man beim Wandern noch genug Luft haben muss zum Singen. Doch mir fallen heute lediglich Armee-Sprechgesänge ein. Ich bin jedoch so sehr mit Luftholen beschäftigt, dass ich keinen Ton herausbringe. Ich ächzte unter der Last des Ungetüms auf meinem Rücken.

Ich habe Wochen damit verbracht, unsere Packliste zu optimieren (–> hier gibt’s die beste Packliste!) und mir exakt zu überlegen, was wir an Nahrungsmitteln benötigen (–> und hier die besten Ernährungstipps!) – nur um dann kurz vor Abflug in einem Anfall von Panik noch allerhand unnützes Zeug einzupacken. Zwei Kohlrabi und eine Zucchini zum Beispiel – jahaaa, ich beglückwünsche mich pausenlos selbst zu meinem Genie.

An den ersten Seen gibt es noch klare Zeichen der nahen Zivilisation. Spuren von Quads begleiten uns, auf einer Landzunge steht eine alte Blechbaracke und ich meine am anderen Ende ein kleines Motorboot zu erkennen. Gelegentlich ziehen Flugzeuge vom oder zum nahe gelegenen Flughafen über uns hinweg. Doch als wir zum ersten Mal eine größere Erhebung überschreiten, und sich die Aussicht auf das nächste Tal auftut, wird uns allmählich klar, dass wir nun wirklich für über eine Woche fernab der Zivilisation sein werden. Um das Gepäck unserer Rucksäcke zu verringern, legen wir eine ausgiebige Essenspause ein.

ACT-Tag2-Jogger
Als wir mal wieder die Aussicht genießen, vernehme ich ein Geräusch hinter uns. Da läuft doch glatt ein Jogger an uns vorbei! Bevor wir begreifen, was da grade passiert, ist er auch schon über den nächsten Berg

Es ist wunderschön hier draußen. So friedlich. Wir haben die Aussicht auf den See, den wir uns für unser Nachtlager ausgesucht haben, ganz für uns alleine. Was für ein Unterschied zu dem sommerlichen Troubel an der Isar in München. Ich meine, da kann man ja nichtmal in Ruhe vespern ohne von einem Jogger über den Haufen… Heee!

Der Jogger

Als ich mich nach unserem Gepäck umsehe, traue ich meinen Augen nicht. Ein Jogger! Er trägt stinknormale Laufschuhe und so einen flachen Laufrucksack*, wie ihn auch die Läufer an der Isar gerne tragen, seitdem die Werbung ihnen weisgemacht hat, dass man immer ein Camelbak dabeihaben muss. Ein Jogger? Wo kommt der denn her? Halt, stop, das kann ich mir grade noch so erklären, Kangerlussuaq liegt nur 25 km hinter uns. Aber wo will der hin? Er winkt von fern und schon ist er Forrest-Gump-mäßig über den nächsten Berg. Keine Ahnung, was der noch vorhat, aber ich hoffe, er hat genug Ausrüstung in seinem Wunderrucksack.

Als ich abends den Rucksack absetze, gehe ich wie ein Ewok aus Star Wars. Der Walter-White-Gedächtnis-Hut, den ich mir eigentlich nur zum Aufspannen des Moskitonetzes mitgenommen habe, passt zu diesem Outfit. Meine Freundin hat ihren Spaß bei meinem Anblick.

Das war ein langer Tag mit fast 25kg. Wir müssen in Zukunft dringend mehr Essenspausen einlegen.

ACT-Tag2-Lager
Auf einem flachen Stück zwischen zwei Seen finden wir ein gutes Lager für die zweite Nacht. Als ich den Rucksack absetze, gehe ich wie ein Ewok

Wir haben einen hübschen Lagerplatz zwischen zwei Seen, der von Einheimischen mit Rentiergeweihen markiert wurde. Zur Stille des Tages kommt nun die Ruhe hinzu. Besser gesagt: Wir kommen zur Ruhe. Es ist herrlich hier draußen. Kein Zeichen von Zivilisation, keine Menschen. Kein Handyempfang, nichtmal ein Handy. So muss Urlaub sein.

Tag 3: Vom Quarlissuit-See bis Amitsorsuaq-See (11km)

Das Hochstemmen und Aufsetzen eines 24 kg schweren Rucksacks erfordert Technik und Koordination in Perfektion. Man stellt das Ungetüm mit dem Rücken vor sich auf, greift die beiden Schulterträger, geht mit gradem Rücken leicht in die Knie, stößt sich katapultartig aus den Oberschenkeln in die Höhe – und stellt dann fest, dass man auf den Hüftträgern steht, fällt vornüber und landet mit der Nase im Dreck. Ehrlich Leute, diesen Vorgang beherrsche ich schon am zweiten Tag aus dem Effeff.

* * *

Der Jogger, den wir am Vortag gesehen haben, ist Franzose. Warum ich das weiß? Folgendes trägt sich zu:

Heute nehmen wir uns etwas weniger vor als gestern, erstmal müssen wir essen, dann können wir länger Wandern. Am frühen Nachmittag erreichen wir den Amitsorsuaq-See. Dort steht eine winzige Schutzhütte, ein Verschlag mit Platz für 2-3 Personen. Gutgelaunt marschiere ich hinein und stelle fest, dass sich darin eine junge Dame grade umzieht. Eine Entschuldigung murmelnd eile ich wieder hinaus.

Wir beschließen, das Gewicht unserer Rucksäcke noch ein bisschen zu reduzieren und legen eine ausgiebige Essenspause ein. Das Wasser des Sees schmeckt hervorragend, ganz im Gegensatz zu den kleinen Seen vom Vortag, die schmeckten nach Lauge. Und grade als wir uns über die junge Dame wundern, die bereits seit einer Stunde in dieser winzigen Hütte verharrt, ohne Hallo zu sagen, kommt sie auf allen Vieren herausgekrochen.

„Habt ihr zufällig ein Satellitentelefon?“, fragt sie schüchtern.

ACT-Tag3-Aussicht
Auch am dritten Tag werden wir laufend mit schönen Aussichten belohnt. Die letzten Zeichen der Zivilisation liegen hinter uns. Es geht permanent von einem Schmelzsee über einen Hügel zum nächsten schönen See.

Die Verletzte

Sie kann nicht laufen. Das war nicht immer so, aber als sie vor drei Tagen um zehn Uhr Abends, nachdem sie den Pfad verloren hatte und mehrere Stunden durch die Wildnis geirrt war, von hoch oben am Fels die Hütte sah, da war sie so glücklich, dass sie ihren Körper vergaß. Sie kletterte steile Felshänge hinab und holte das Letzte aus sich raus – und am nächsten Morgen ging nichts mehr.

Ein paar Wanderer sind inzwischen vorbeigekommen, aber sie können halt erst im Ziel Hilfe suchen. Das dauert noch etwa 5 Tage. Genauso lange reichen ihre Essensvorräte. Und dann? Wie schnell wird Hilfe da sein? Wir holen ihr frisches Wasser und überlegen, ob wir ihr wohl ein bisschen was zu essen dalassen können, da taucht auf einmal ein junger Däne auf.

„Ist das ein Satellitentelefon an deinem Rucksack?“, fragt sie hoffnungsvoll, kaum dass er Hallo gesagt hat.
„Nein“, sagt er, und sie sinkt enttäuscht in sich zusammen. „Das ist ein GPS-System. Aber ich kann damit im Notfall einen Notruf absetzen“, fügt er stolz hinzu. Offenbar ist ihm noch nicht aufgefallen, dass das junge Mädchen nicht ganz freiwillig auf allen vieren herumrobbt.
„Dann… sollten wir das tun?“, schlägt meine Freundin vor.

Wir erklären ihm die Lage und er tippt sogleich seinen Text. Die Nachricht geht zur Zentrale des Herstellers nach Texas, die suchen dann seinen Ansprechpartner vor Ort. Wahnsinn, was heute alles möglich ist. Da wir nichts weiter unternehmen können, wandern meine Freundin und ich schon ein wenig weiter. Wir bleiben in Sichtweite, versprechen wir, denn der vor uns liegende See ist unglaublich lang und das Gelände um die Hütte gut einsehbar.

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Die Rettung

Eine gute Stunde später schlagen wir unser Lager auf. Als wir fertig gegessen haben, hören wir es plötzlich: Die Rettung! Ein Rettungshubschrauber. Wir hetzen ein paar Meter den Hügel rauf, von wo wir die Hütte sehen können, und tatsächlich: Ein riesiger, roter Helikopter von Air Greenland steht neben der Hütte. Die Hütte verschwindet praktisch im Schatten eines seiner Rotorblätter, so groß ist das Teil.

Der Wahnsinn! Gott, was wird das Mädchen erleichtert sein. Sie ist gerettet! Vor Rührung muss ich glatt schlucken. Das winzige Gerät, dass der Däne am Träger seines Rucksacks geclipst hatte, funktioniert einwandfrei. Weniger als zwei Stunden nach dem Notruf ist sie auf dem schnellsten Weg nach Sisimiut. Für unsere nächste Wanderung besorgen wir uns auch so ein Teil (–> hier geht’s zum Garmin inReach Explorer+ auf Amazon*). Wir sind fast genauso erleichtert wie das Mädchen.

ACT-Tag3-Helikopter
Nur zwei Stunden nach dem Notruf beobachten wir aus 3km Entfernung, wie ein riesiger Helikopter von Air Greenland landet, um das verletzte Mädchen zu Retten

Es ist kein Jogger in Sicht und der Helikopter verschwunden, also sonnen wir uns nackt am See. Der Wind, der vom anderen Ende aufzieht, kitzelt sanft am… huch? Von fern nähert sich eine Wolke. Ein seltsames Wetterphänomen vielleicht? Ein Nebel, der Abends über den See zieht? Gebannt verfolgen wir, wie der Rand des Nebels sich am Hang des Tals auf uns zuschiebt. Er wird uns bald treffen, also räume ich unser Gepäck vorsichtshalber ins Vorzelt. Sicher ist sicher, nicht dass es feucht wird.

Der Rauch

Dann folgt der Countdown, wir können rückwärts zählen, bis uns die Wand erwischen wird. Drei, zwei, eins… Fuck! Es riecht nach Rauch! Panik! Brennt da was? Müssen wir fliehen? Wir wollten eigentlich gleich ins Bett, aber im Schlaf verbrennen wollen wir lieber nicht.

Wir beruhigen uns, indem wir uns klar machen, dass die Vegetation hier kaum Wadenhoch ist. Ein Feuer wird sich in diesem krüppeligen Buschwerk nur sehr langsam ausbreiten. Dennoch bleibt ein mulmiges Gefühl. Immerhin hat sich der Rauch rasend schnell ausgebreitet. Ist das Feuer unter Kontrolle? Ist der Rauch gefährlich? In wenigen Minuten riecht unsere gesamte Ausrüstung danach. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Schlafmaske tief in die Stirn zu ziehen und darauf zu hoffen, dass sie auch die Nase überdeckt.

ACT-Tag3-Lager
Am Abend des dritten Tages zieht plötzlich ein seltsamer Nebel auf. Er zieht immer näher, bis wir plötzlich mitten drin sind. Rauch! Es brennt!

Zum ersten Mal auf dieser Wanderung fällt mir ein Liedchen ein:

Guten Abend, gut’ Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,
schlupf unter die Deck‘:
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt

Den Teil mit „wenn Gott Will“ fand ich schon immer ein wenig makaber. Bis zum Einschlafen geht er mir nicht mehr aus dem Kopf.

* * *

Ach, und warum wir wissen, dass der Läufer Franzose ist? Das arme verletzte Mädchen in der Hütte hat ihn jedenfalls nicht getroffen, sonst hätte er wohl noch am ehesten Hilfe holen können. Aber er war wohl schneller vorbei, als sie gucken konnte. Der Däne mit dem SOS-GPS hat ihn aber ebenfalls gesehen. Und kurz mit ihm geredet. Er sagte, er läuft die gesamte Strecke durch, von Kangerlussuaq bis Sisimiut. 176 km am Stück. Unmöglich? Finde ich auch. Ich meine, ich weiß schon, dass es Bekloppte gibt, die 100-Meilen-Läufe machen, aber hier geht es über Stock und Stein.

Unmöglich scheint es jedoch nicht zu sein, denn letztes Jahr hat er es schon einmal gemacht. In 32 Stunden. Der spinnt, der Gallier.

Tag 4: Vom Amitsorsuaq-See bis kurz vorm Kanucenter (gleicher See, 16km)

Ein vorsichtiger Blick aus dem Zelt verheißt nichts Gutes. Die Wolken hängen tief überm See. Rein optisch würde ich immerhin vermuten, dass es kein Rauch ist. Die Nase sagt da allerdings etwas anderes. Es kann aber auch sein, dass unsere gesamte Ausrüstung gestern Abend nachhaltig eingequalmt wurde. Frei nach dem Motto:
„Wieso riecht es hier eigentlich überall nach Käse?“
„Weil deine Nase nur ca. 1,75m von deinen Füßen entfernt ist, du Depp!“

Zum ersten Mal seit unserer Ankunft in Grönland weht der Wind nun vom Meer ins Landesinnere. Und bringt nicht nur gelegentlich Rauchschwaden, sondern auch beständig kühle Luft. Nach dem Abwasch des Frühstücksgeschirrs kann ich die Finger kaum zum Zeltabbau verwenden. Westwind ist blöd.

* * *

Westwind ist toll! Nur ein paar Stunden später haben sich die Wolken aufgelöst und die Sonne scheint wie immer. Nur der Wind ist etwas kühler. Wirklich angenehm.

Der lange See liegt den gesamten Tag zu unserer Rechten. Er scheint nur ein paar hundert Meter breit zu sein, aber so an die dreißig Kilometer lang. Das praktische daran ist, dass man eigentlich gar keinen Trinkwasservorrat bereithalten muss. Aber irgendwann wird die Aussicht ein wenig langweilig.

ACT-Tag4-Steinmännchen
Steinmännchen markieren den Arctic Circle Trail. Dieses hier ist eher ein Steinmann
ACT-Tag4-Trinkpause
Der See liegt den ganzen Tag zu unserer Rechten. Das ist insofern praktisch, dass man einen unbegrenzten Trinkvorrat immer zur Seite hat.

Vormittags kommt uns ein älterer Mann entgegen. Er ist 62 Jahre alt und wandert allein. Mit seinen zu langen Wanderstöcken und dem schief sitzenden Rucksack wirkt er wie eine Spinne, der man ein paar Beine abgeschnitten hat.

„Am Ende des Sees ist ein Feuer“, warnt er uns. „Aber man kommt ganz gut drum herum.“
Puh, das sind ja mal Nachrichten. Wir hatten gehofft, das Feuer wäre in einem anderen Tal. Es ist zwar beruhigend zu hören, dass es der alte Mann drum herum geschafft hat, aber wer weiß, wie der Zustand ist, wenn wir dort ankommen. Bis morgen Mittag kann sich noch viel ändern.

Völlig unaufgefordert fügt er noch hinzu: „Ich laufe heute noch bis Kangerlussuaq.“ In dem Moment fällt mir sein französischer Akzent auf. Klare Sache, noch so ein Bekloppter. Bis Kangerlussuaq sind es von der Kanuhütte – wo der Mann heute früh aufbrach und wo wir heute hin wollen – etwa 60km. Die Spinnen, die Gallier!

Am Nachmittag, als wir auf der Höhe einer Halbinsel einen kleinen Hügel überwinden müssen, sehen wir erstmals das Kanucenter. Das heißt, wir können es erahnen. Es ist nur 2 oder 3km entfernt und an sich gut zu erkennen – wäre da nicht der Rauch.

Der Westwind bläst den Rauch des Feuers gnadenlos in unsere Richtung. Hinter der Halbinsel waren wir während der letzten Kilometer ganz gut davor geschützt, doch wenn wir jetzt weiterlaufen, sind wir mitten drin. Klarer Fall: Wir gehen nicht weiter. Weil wir sonst heute Nacht viel zu nah am Feuer schlafen müssten.

Ein traumhaftes Ufer und kristallklares Wasser entschädigen uns dafür, dass wir das Tagespensum heute nicht vollständig schaffen.

ACT-Tag4-Kanucenter
Unser erster Blick aufs Kanucenter verheißt nichts gutes. Die Hütte, links auf der Landzunge, ist im Rauch kaum zu erkennen. Also bleiben wir, wo wir sind …
ACT-Tag4-Lager
… so schlimm ist das nun auch wieder nicht. Einmal mehr finden wir ein traumhaftes Lager.

Tag 5: Von kurz vorm Kanucenter bis zum Feuer…

„In Grönland vor mir läuft ein junges Mädchen
Sie sieht gut aus und sie scheint nett zu sein
Ich muss sie gleich mal fragen
Vielleicht darf ich ihr Wasser tragen –
In Windeseile ist die Kleine mein.“

Mit der Melodie von Henry Valentino dichte ich ein Liedchen. Ich finde das witzig, weil ich tatsächlich das Wasser für uns beide trage. Meine Freunde findet, ich war schon witziger. Zum Beispiel, als ich wie eine Kreuzung aus Ewok und Walter White ums Zelt humpelte.

Immerhin reicht heute erstmals die Luft zum Singen. So muss Wandern laufen! Das Kanucenter ist bald erreicht. Leider finden wir keinen Hinweis darauf, wer eigentlich auf die Idee kam, vier Tagesmärsche von der nächsten Stadt entfernt ein Kanucenter in die Wildnis zu bauen. Selbst Frieder, der Erhalter des Arctic Circle Trails vom Campingplatz in Kangerlussuaq, konnte uns hierauf keine befriedigende Antwort geben.

Das Resultat erscheint uns jedoch nur logisch: Es steht leer. Es gibt hier über 20 Betten, aber leider kein einziges Kanu. Schade, denn in unserem Wanderführer steht, dass diese zur Benutzung freigegeben sind. Dafür gibt es eine große Müllentsorgungstonne (die vermutlich im Winter per Skidoo geleert wird) und eine Toilette.

Okay, eigentlich ist es eher ein Eimer mit einer Klobrille, aber in den Eimer kann man eine Plastiktüte einspannen und dann hinter der Hütte in einer verschließbaren Tonnen entsorgen. Ein Luxus, der gern genutzt wird.

An der Hütte treffen wir einen Schweizer wieder, der uns heute früh überholte, als wir noch am Frühstücken waren. Er war zu dem Zeitpunkt bereits 3,5h unterwegs. ich sollte hinzufügen, dass er französischsprechender Schweizer ist. Er will den gesamten Trail in nur fünf Tagen schaffen. Ich werte ihn als Franzosen.

ACT-Tag5-Blume
Am nächsten Morgen hat sich der Wind gelegt. Die Blümchen sagen: Auf durch’s Feuer!

Er hat ein bisschen Schiss vor dem Feuer, doch er will nicht länger warten und bricht auf, als wir ankommen. Ehrlich gesagt geht es uns ähnlich. Doch wir sollten uns beeilen, denn im Augenblick weht der Wind nicht und so ist jeder Brandherd gut zu erkennen. Nur an einzelnen Punkten steigen im Augenblick Rauchsäulen auf.

Man kann nur sounso lange auf einem Klo sitzen, selbst wenn es so bequem ist wie dieses. Es hilft nichts: Auch wir müssen weiter. Nervös nähern wir uns dem Brandherd, bis wir das genaue Ausmaß der Zerstörung allmählich erfassen.

Über mehrere hundert Meter Länge – vielleich sogar ein Kilometer – ist die Erde verkohlt. Die Rauchherde reichen vom Ufer des Sees bis hinauf zum Bergkamm. An manchen Stellen züngeln kleine Flammen empor. Das Bild ruft Endzeitstimmung in uns hervor, als wären wir die letzten Überlebenden nach dem Aufstand der Maschinen.

Unweigerlich fragen wir uns, ob das Feuer von Menschen verursacht wurde. Immer wieder haben wir Zigarettenstummel gesehen. Das allein war schon ein trauriger Anblick in der ansonsten unberührten Wildnis Grönlands. Und jetzt das: Glühender Boden überall. Der torfige Grund schwelt mit, das Feuer breitet sich oberirdisch wie unterirdisch aus, und uns wird klar, warum bislang noch niemand versucht hat, es zu löschen: Es dürfte schneller gehen, wenn man einfach auf den nächsten Schnee wartet. So in ein, zwei Monaten könnte es soweit sein.

Am Rand, wo sich das Buschwerk in Asche wandelt, erspähe ich ein altes Kanu am Seeufer.
„Halt!“, rufe ich meiner Freundin hinterher. „Wir können das Kanu nehmen!“
„Bist du sicher?“, entgegnet sie nachdenklich. Sie fühlt sich bei dem Gedanken, all ihr Hab und Gut auf ein löchriges altes Boot zu verstauen, damit über einen See zu paddeln, in dem man gespenstisch tief gucken kann, und wegen dem Feuer nicht mal im Falle eines Kenterns überall anlanden zu können, nicht besonders wohl.

ACT-Tag5-Kanucenter
Ohne Wind sind die Brandherde gut zu erkennen. Und das alte Kanucenter auch. Kurz vor dem Ende des Sees finden wir ein zurückgelassenes Kanu. Ob wir damit um das Feuer herumkommen?

Aber mein Abenteuergeist ist geweckt.
„Wir hatten doch gesagt, dass wir eine Paddelpause einlegen, falls wir ein Kanu finden!“, sage ich. „Jetzt fahren wir halt mitsam Gepäck ans Ende des Sees. Wenn wir Glück haben, können wir so vielleicht das Feuer umgehen. Also los!“

Das Kanu ist mit Spachtelmasse und Ducked Tape mehrfach geflickt. Vorsichtig schieben wir es auf die spiegelglatte Oberfläche des Sees. Ein paar Mal poltert es über die Steine am Ufer. Testweise setzen wir uns hinein, erst meine Freundin, dann ich. Es ist ganz schön wackelig. In der Mitte dringt etwas Wasser ein, aber es scheint so wenig zu sein, dass wir es trocken über den See schaffen müssten. Ich stoße uns mit dem Paddel vom Ufer ab. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Los gehts!


Du hast Lust auf den Arctic Circle Trail bekommen? Die Trail-Bibel Grönland: Artic Circle Trail hat uns für alles gereicht! Hier findest du nicht nur detaillierte Beschreibungen der Etappen, sondern auch allerhand Wissenswertes über Land und Leute.

Letztlich verzichteten wir sogar auf weiteres Kartenmaterial, die Skizzen in diesem Buch waren ausreichend. (Das würde ich allerdings nur bei gutem Wetter empfehlen.)

Hier geht es weiter mit Teil 2 unseres Berichts vom Arctic Circle Trail!

Wandern in Grönland – Der Arctic Circle Trail – Tagebuch, Teil 1

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11 Gedanken zu „Wandern in Grönland – Der Arctic Circle Trail – Tagebuch, Teil 1

  1. Moin,
    spannend. Ihr hattet anscheinend die flotten Franzosen. 2018 trafen wir auf eine Gruppe von drei Franzosen. Die waren mit Rucksack und Trolley unterwegs! Also das komplette Gegenteil eurer Hochgeschwindigkeitsläufer. 😀
    Allerdings möchte ich doch deine Empfehlung des gelben Büchleins etwas in Zweifel ziehen. Besonders die zweite Hälfte des Trails ist darin weitestgehend katastrophal beschrieben. Das englische, blaue Buch von Paddy Dillon ist wirklich um Welten besser. 🙂
    Ach ja, und als einsam würde ich den ACT mittlerweile auch nicht mehr bezeichnen. Abgelegen ja, aber einsam? Im Sarek hatten wir Tage, wo wir keinen Menschen trafen. Das verstehe ich dann schon eher unter einsam. In Grönland haben die Menschen gegen die Rentiere gewonnen. Und zwar ziemlich zu deutlich. Am Ende stand es 37:54. 😀
    Grüße aus Kiel

    1. Hi Konrad! Ihr habt offenbar nicht nur deutlich mehr Menschen gesehen (wir haben vielleicht 2-3 pro Tag getroffen, mal in Form von Solohikern, mal nur als eine Gruppe), aber insgesamt nur 2 oder 3 Rentiere. Die Jagdsaison war bei uns schon vorüber…

  2. Hallo,

    wir hatten auch den ACT auf unserer 2020 Wunschliste. Mittlerweile scheint der allerdings schon sehr bekannt zu sein (ihr seid dem Hype eventuell noch zuvorgekommen). In welchen Augustwochen ward ihr denn unterwegs und wie „busy“ war es wohl? Vielen Dank, Caroline

    1. Hallo Caroline!
      Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es auf dem Arctic Circle Trail jemals „busy“ wird. Wir haben am Tag vielleicht 2-3 Wanderer(-gruppen) getroffen. Das beinhaltet auch die Leute, die in die andere Richtung laufen. Unseren Zeltplatz mussten wir kein einziges Mal teilen. Aber lass es mich wissen, falls du anderes erlebst!
      Wir sind am 3.8. losgewandert, ich würde auch Juli und die erste Augusthälfte empfehlen. Vorher gibt’s gaaanz vielleicht noch Schnee, die Schmelzbäche können jedenfalls recht schwer zu durchqueren sein. Hinterher wird’s schon wieder frischer (aber die Temperaturen waren bei uns recht human, ca 5-18°C, 5°C dann nachts).
      Gruß, Götz

  3. Ein schöner Bericht. Wir sind im selben Jahr in entgegengesetzter Richtung gelaufen. Dem Feuer sind wir auf dem Wasser entkommen und den Franzosen haben wir auch getroffen. Die Welt ist ja soooo klein. 🙂

  4. Schön zu hören, dass Frieder seinen Plan mit dem Campingplatz umsetzen konnte. Wir hatten vor drei Jahren kurzweilige Stunden in der Herberge.
    Die ersten Kilometer sind wir damals auch gelaufen, so schlimm war das nicht, gerade als Einstimmung.

    1. Ja, Frieder hat sogar einen Verein zum Erhalt des Arctic Circle Trails gegründet. Ich weiß auch noch, dass dieser Verein eine Homepage hatte, google hilft mir da aber leider nicht weiter. Weißt du zufällig was? Ich würde den hier gerne verlinken.

      1. Hi Götz,

        die Website von Frieder Weiße heißt: http://polarrouten.net/.
        Ich denke, das ist die, die du meinst.

        Darüber hinaus hat er eine weitere Seite ins Leben gerufen, auf der dafür geworben wird, den Trail sauber zu halten – den eigenen und sogar den Müll anderer einzusammeln und entsprechend zu entsorgen. Das ist diese Seite hier: http://ididit.polarrouten.net/.
        In einigen Hütten gibt es einen Aufruf dazu in Form eines DIN A 4-Blatts.
        Ich habe in meinem eigenen Reisebericht auf Seite 55 darauf hingewiesen (https://www.amazon.de/Arctic-Circle-Trail-Trekking-Gr%C3%B6nland/dp/3751995757/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=151K5YSDZ94MK&dchild=1&keywords=arctic+circle+trail+trekking+auf+gr%C3%B6nland&qid=1601276559&sprefix=arctic+circle+trai%2Caps%2C170&sr=8-1).
        Allerdings bin ich im Zweifel, ob die „Ididit..“-Seite (noch) gewartet wird.

        Grüße aus’m Pott
        Klaus

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